Heute fährt die 18 bis nach... Tirana!

 

Von T. Muth

(März 2012) 

 

Tirana im März ist eine Stadt der Mimosen. Die Menschen tragen sie nach Hause, legen einen duftenden Strauß in ihr Auto. Während Europa noch friert, hat in einem der letzten unbekannten Länder des Kontinents vielerorts schon das Aroma des Frühlings Oberhand bekommen und macht die albanische Hauptstadt zu einem perfekten Reiseziel.

 

Die Landung ist holprig, das Flugzeug ruckelt über die Rollbahn des Flughafens. Der internationale Flughafen trägt den Namen der Mutter Theresa. Angekommen in Albanien – ein schlichter Stempel im Reisepass, ohne den charakteristischen und von mir erhofften Nationaladler. Eine billige Busfahrt durch kahle Landschaften, vorbei an unerwarteten Hügelketten in die immerstaubigen Vororte Tiranas, unterlegt mit altbekannter Musik, die uns ans Ende der Neunziger zurückversetzt.

Wer im März in der albanischen Hauptstadt ankommt, wird empfangen von der überraschenden Milde der Frühlingssonne und vom dennoch kühlen Wind, der von den schneebedeckten Bergen heranweht und die Abgase der vielbefahrenen Straßen davonträgt. Am Skanderbeg-Platz erwartet mich die gelassene Routine Südosteuropas: An der Kreuzung steht ein Verkehrspolizist, ab und zu hört man eine Hupe. Die Menschen gehen ihres Weges, auf Bänken sitzen alte Männer und arbeitsuchende Tagelöhner. Als würde es keine EU geben. Die Menschen hier kümmern sich genauso wenig um die europäische Einheit wie um den Euro. Hier ist die Welt noch in Ordnung, kein Hybridgemüse und keine Regulationen aus Brüssel, ein wunderbares Ferienziel um ein wenig Ruhe zu bekommen. Und um den Platz in der Mitte von Tirana sammelt sich all das, was Albanien repräsentiert: Gegenüber dem Nationalhistorischen Museum mit seiner gewaltigen Mosaikfassade thront das Tirana International Hotel, das früher nur Hotel Tirana hieß und bei der Bevölkerung das Fünfzehnstöckige genannt wird – ein bisschen Sozialismus gefällig? Daneben steht die schlicht gebaute Staatsoper, eine Hausnummer weiter hält die Et’hem-Bey-Moschee mit Glockenturm und Minarett die Fahne des alten muslimischen Erbes hoch – weitgehend unerhört. Dem Ruf des Muezzins folgen nur noch alte Männer mit Gebetsmütze oder dem für Albanien typischen weißen Filzhut, der Qeleshe. Gegenüber dem Gotteshaus wacht die stolze Bronzestatue des spätmittelalterlichen Nationalhelden und Namensgeber dieses Platzes, Georg Kastriota alias Skanderbeg, der das Land lange Zeit gegen die Osmanen verteidigt hatte.

Die Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt lassen sich in einem einzigen Spaziergang zusammenfassen. Im Hintergrund dominieren die noch immer schneebedeckten Gipfel die Szene, die dem Bild einen grauweißen Rahmen verleihen. Es ist schwer, den Blick abzuwenden von den Bergen, die sich in einer erstaunlich guten Mischung mit der Großstadt verbinden. Der Mt. Dajti ist mit einer Gondelbahn erreichbar, doch wer die Aussicht auf weniger spektakuläre Weise genießen will, muss den Großen Park am südlichen Ende der Stadt „besteigen“. Überraschend hügelig ist dieses Freizeitgelände, wo sich Jogger und Bummler tummeln, wo sich Jung und Alt in den Cafés am künstlich angelegten See die Zeit vertreiben. Auf den Hügeln des Parks finden sich auch unerwartete Zeugen der Geschichte: Kriegsgräber mit grauen und weißen Grabsteinen und Namenstafeln erinnern einmal an die britischen und an anderer Stelle an die deutschen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs.

Der März ist die Zeit der Mimosen. Unzählige Passanten tragen diese gelben Sträuße nach Hause, schmücken damit den Esstisch oder legen sie auf den Rücksitz des Autos. Der Duft erfüllt die Luft. Verkauft werden die Blumen an Straßenecken, von auf dem Boden hockenden Verkäuferinnen, in den belebten Straßen. Eine Roma-Frau verkauft Blumensträuße im Rinia-Park, dem „Park der Jugend“. Sie hat ihren Säugling anderswo auf einer Pappe abgelegt. An einem strategisch günstigen Ort, wo die Menschen mehr Geld auf die Straße klimpern lassen als an ihrem Blumenstand. Das Kind liegt da so und gluckst fröhlich vor sich hin. Irgendwie skurril. Die Menschen gehen vorbei, die Jugend spielt Fußball, die Mädchen hüten ihre jüngeren Geschwister. In der nahen Einkaufsstraße gehen die Menschen ihren normalen Einkäufen nach, begutachten die neuste Mode in den Schaufenstern. Vor allem Sonnenbrillen sind Mode und ein Muss. „Frisch vom Bäcker!“ verspricht eine deutsche, fast schon antike Aufschrift auf der Rückseite des Autos, das heute Zigaretten und getönte Augengläser verkauft. Man trifft sie häufig, die Zeitzeugen aus der eigenen Heimat. Ab und an kommt mir ein Bus entgegen, mit der Aufschrift „Dienstfahrt“. Keiner versteht hier Deutsch, deswegen interessiert die Dienstfahrt auch keinen. Als der Bus vor zwanzig oder mehr Jahren seine letzte Schicht in Deutschland beendet hat, ging sein neues Leben auf dem Balkan gerade erst los. Einmal kommt sogar die Nummer 18 um die Ecke gedüst, Buxtehude über Neustädter Siedlung. Heute geht die Fahrt jedoch bis zum Skanderbeg-Platz und dann retour. So ist Tirana.

Auf einem kleinen Ausflug zu einem der umliegenden Orte finde ich dann ein weiteres originelles Stück Albaniens, wie ich es gesucht hatte: Ein Minibus mit zu hohem Tempo und zu hohen Preisen für unwissende Touristen, voll besetzt mit Menschen, die allesamt kein Wort Deutsch oder Englisch verstehen, und mit mir. Dass Sprachprobleme einer Unterhaltung über Fußball keineswegs im Weg stehen ist natürlich klar. Auf den Serpentinen nach oben, den Berghang hinauf, an dem die kleine Stadt Kruja liegt, kommt man durch einen mediterranen Nadelwald. Er ist gespickt von den unzähligen sozialistischen Bunkern mit ihrer kleinen, hässlichen runden Kuppel. Ein Albaner soll zwecks Garagenbaus einmal versucht haben, einen dieser Betonpilze abzureißen. Ganze drei Monate soll er gebraucht haben. Hier stehen sie noch in der Gegend, wie an so vielen Orten des Landes. Es gibt tausende von ihnen. Ohne System, mal gepaart, mal einzeln. Albanische Volksmusik dudelt aus dem Radio. Der Fahrer des Wagens entpuppt sich als Fan des FC Bayern München. Ein älterer, dicklicher Polizist steigt zu uns ein, wirft seine Dienstmütze lässig auf das Armaturenbrett. Die Stimmung ist ausgesprochen heiter. Die policia in Gjermania sei bestimmt anders, bemerkt unser Fahrer. Der Polizist lacht und klopft ihm auf die Schulter. Wie wahr. Oben auf dem Berg wartet das als gewaltige Festung getarnte Skanderbeg-Museum, das gerade allerdings Mittagspause macht. Nebenan kann man außerdem das Ethnografische Museum besichtigen, es soll das Beste seiner Art im ganzen Land sein. Man bekommt das zu sehen, wovon in der städtischen Kultur fast nichts mehr übrig ist. Die Trachten sind bunt und farbenfroh, die Zimmer hölzern. Jedes Landhaus hatte ein türkisches Dampfbad. Auf dem Rückweg in die Stadt komme ich durch den Basar, wo man ebensolche Häuser findet. Traditionell, dicht an dicht gebaut, beherbergen sie Antiquitätenläden und Teppichwerkstätten, in denen man Frauen bei der Weberei zuschauen kann. Zwischen kommunistischen Militaria und traditionellen Filzhüten findet man die eine oder andere Rarität.

Das ländliche Albanien ist es, das so faszinierend unbekannt wirkt. Dörfer und Kleinstädte sind es, wo man zum Beispiel noch nach den Regeln des Kanun lebt. Diese uralte Gesetzessammlung des albanischen Gewohnheitsrechts hat auch die berüchtigte Blutrache hervorgebracht. Vom Kommunismus weitgehend unterbunden, gewann sie nach der Revolution in den 1990er Jahren wieder an Einfluss. Familien erinnerten sich an alte Fehden aus der Vorkriegszeit und nahmen Rivalitäten wieder auf. Das Resultat waren vielerorts Morde aus Vergeltung, die wiederum andere Morde nach sich ziehen. Die Blutrache hat in vielen Dörfern dazu geführt, dass Familienväter ihren Hof nicht mehr verlassen können.

 

Zurück in Tirana. Diese Stadt ist auf ihre eigene Art faszinierend. Es ist die Mischung aus Lärm und Ruhe, Überfülltheit und Erholung im Park, Sozialismus und Moderne. In den engeren Straßen gerät man auf einen belebten Basar, von dem man nicht weiß, ob er ein bunter oder schon ein Schwarzer Markt ist. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Doch wenn man billige Handys sucht, dann ist das die beste Adresse.

Seitdem man das kommunistische Regime Anfang der Neunziger abgesetzt hat, wurde auch am Make-up der Stadt gepinselt: Die früher grauen Häuserblocks und Massenwohnquartiere wurden orange und gelb gestrichen, mit dicken, farbigen Punkten versehen oder durch bunte Balkone freundlicher gestaltet. In Tirana lässt es sich aushalten. Die Stadt ist seit zwanzig Jahren im Wandel – doch es ist noch nicht ersichtlich, wohin dieser Weg geht. Selbst die Albaner es nicht wissen. Doch für Veränderungen haben sie gekämpft, und nicht wenige mussten ihr Leben lassen. Im Nationalhistorischen Museum erfährt man Näheres über die Revolution. Von außen mit einem riesigen Mosaik geschmückt, das im Stil der 1950er Jahre die albanische Arbeiterschaft darstellt, wirkt es sehr sozialistisch. Doch der Schein trügt. Es ist ein äußerst modernes Museum. Allerdings sollte man der albanischen Sprache mächtig sein, denn Englisch ist relativ rar. Die Reise geht von der Antike über die Zeit der Osmanen und den (siegreichen) Schlachten des Skanderbeg bis hin zum albanischen nationalen Erwachen, das vor allem das Kosovo mit einschließt. Am Ende wartet ein Saal, der die Zeit des Kommunismus und seiner Konzentrationslager aufarbeitet. Die Schicksale, von denen diese Ausstellung erzählt, sind auch ohne große Sprachkenntnisse tief bewegend. Die Bilder und Texte berichten von Menschen, die 30 Jahre lang im Lager oder im feuchten Keller eines Gefängnisses überlebten. Eine Vitrine zeigt die Gegenstände, die Menschen wie Arben Vogil bei sich trugen. Der Albaner wurde im Februar 1991 vom Geheimdienst zu Tode gefoltert: Das blutverschmierte Hemd, sein Pass, ein Taschentuch, eine halb geleerte Packung Zigaretten und die Schlüssel, mit einem kleinen Plastikfußball als Schlüsselanhänger, liegen nun hier und erinnern an den jungen Mann. Er fand mit (zu) vielen anderen in den Tagen der Revolution den Tod. Einige Tage vor seinem Tod hatte man die Enver-Hoxha-Statue gestürzt. Teile des Kabels, mit dem man den großen, 30 Meter hohen Bronze-Diktator zu Fall gebracht hatte, liegen in derselben Vitrine.

 

Wieder draußen, am Tageslicht, schwirrt mir das undeutliche, verzerrte Bild im Kopf herum, das man zuhause in Deutschland oft von Albanien und den Albanern hat. Vielleicht hat „AktenzeichenXY“ uns in dieser Hinsicht ein wenig zu sehr geprägt. Mafiabanditen und Drogenbosse – doch Albanien ist mehr. Es ist eben doch ein sehr unbekanntes Land, in das sich bis jetzt noch eher selten ein Tourist verirrt. Auf einer Reise begegnen einem jedoch vor allem freundliche, hilfsbereite Menschen, die sehr aufgeschlossen sind und sich immer die beste Mühe geben, um den wenigen Touristen im Land einen positiven Eindruck zu vermitteln.

Nachdenklich gehe ich die Straße, die schon zum gewohnten Heimweg geworden ist, zurück zum Hostel und es scheint, dass mir die Gesichter der Entgegenkommenden langsam bekannt vorkommen. Ein Indiz dafür, dass es an der Zeit ist weiterzuziehen. Albanien sollte nur die erste Station meiner Balkan-Reise bleiben.