Eine kurze Reise durch das Kosovo

 

Von Thorsten Muth (März 2012)

 

Der Bus verlässt Tirana am frühen Nachmittag. Eine lange Fahrt steht uns bevor ins Kosovo, wo vermutlich noch Schnee liegt. Sonnenschein begleitet die erste Etappe in Richtung Norden. Dank des neuen Highways braucht man nach Prishtina nicht mehr zehn, sondern nur noch sechs Stunden. Die Strecke zieht sich, es geht in die Berge. An einem breiten Fluss entlang windet sich die Straße vorbei an kleinen Siedlungen und einzelnen Höfen. In Nordalbaniens Dörfern und Kleinstädten herrscht neben den normalen Gesetzen des Staates noch ein anderes: der Kanun. Hier, in einer recht unübersichtlichen Gegend, in der über die Jahrhunderte nicht einmal die Osmanen die volle Kontrolle erlangen konnten, erhielten sich alte albanische Bräuche und Gesetze, die in der Antike entstanden waren. Bekannt ist das traditionelle albanische Gewohnheitsrecht vor allem durch die Blutrache. Nachdem der Kommunismus das Stammesgesetz weitgehend gebannt hatte, erinnerten sich viele Bewohner in den 1990er Jahren wieder daran, wer vor dem Krieg wen ermordet hatte und aus welchem Grund. So kommt es, dass einzelne Personen, Familienoberhäupter, Söhne, heute keinen Schritt mehr aus ihrem Haus machen können aus Angst, von einem Mitglied einer verfeindeten Sippe getötet zu werden. Ein weiterer Faktor, der das unbekannte Albanien noch rätselhafter erscheinen lässt.

Während man der Grenze näher kommt, häufen sich die unregelmäßig in die Landschaft gesetzten Bunker. Früher begann hinter den Bergen Jugoslawien. Doch 2008 wurde das Kosovo mit seiner größtenteils albanischen Bevölkerung nach einem Jahrzehnts des Krieges und der anschließenden Unsicherheit unabhängig. An der Grenze gibt es einen Einreisestempel in den Pass, der Busfahrer bringt die Dokumente zurück in den Bus. Er ruft alle namentlich auf, findet meinen Nachnamen in meinem Reisepass nicht. Er runzelt die Stirn, plötzlich nickt er jedoch, als habe er gefunden was er suchte. „Deutsch!“, ruft er. Das ist zwar nicht mein Name, aber ich weiß wer gemeint ist.

Bei Dunkelheit erreiche ich Prizren. Aus dem Bus heraus trete ich in eine tiefe Pfütze. Fuß nass. Dafür spricht der Taxifahrer einige Brocken Deutsch, hat sogar eine Zeit lang in Tübingen gearbeitet. Ich wollte das angeblich ebenfalls deutschsprachige Hotel Tirana ausprobieren, weil es in Prizren ansonsten nicht viele Möglichkeiten gibt. Aber der Eingang macht keinen geöffneten Eindruck. Tatsache: „Hotel nix arbeiten“, sagt mir der Taxifahrer und grinst. Für eine Hand voll Euros fährt er mich zu einem Motel, das zwar keinen Preis gewinnen würde, aber immerhin in einer Flimmerkiste mit schlechtem Empfang RTL zu bieten hat. Alles wirkt ein wenig provisorisch. Mir wird bewusst, dass ich im Kosovo bin. Hier war vor 12 Jahren noch Krieg.

Am nächsten Morgen verrät der Blick aus dem Fenster, dass sich über den im Wiederaufbau befindlichen und den stehengebliebenen Häusern der Stadt ebenfalls die Berge erheben – dieses Mal von der anderen Seite betrachtet. Ich lasse mein Gepäck beim Portier, der die Stirn runzelt, mich aber doch irgendwie versteht, und erkunde die Stadt. Prizren liegt an einem Fluss, hat einige alte Brücken und viele sehenswerte muslimische Gotteshäuser wie z.B. die Sinan-Pascha-Moschee. Allerdings sind die meisten geschlossen und man muss sich auf Albanisch erkundigen, wann einem wer die Tür öffnen kann. Ich komme vorbei an einer ehemaligen orthodoxen Kirche, von der nur noch Ruinen stehen und die mit Stacheldraht umhüllt ist. In den Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahrzehnte haben nicht nur die Kosovo-Albaner gelitten. Auch die Serben wurden vertrieben und ihre Häuser und Kirchen zerstört. Auf dem Weg zur Festung muss ich einen Hang hinauf, an dem sich leere Hausruinen an den Berg schmiegen. Ein vereister Weg führt zwischen den Häusern vorbei. Das ehemalige serbische Viertel liegt so da, als wäre das Feuer erst kürzlich erloschen. Hier wohnt niemand mehr.

Von der Festungsmauer aus kann man den Blick schweifen lassen über die Dächer der Stadt. Im Hintergrund der Gipfel des Gebirges, zu seine Füßen die kosovarische Ebene, in der die Stadt liegt. Das Bild ist geprägt von Minaretten und einigen neuen Plattenbauten am Stadtrand. Im Zentrum von Prizren lassen sich aus der Höhe noch die alten Straßenzüge ausmachen, die Überreste des osmanischen Basarviertels. Kleine, geduckte Häuschen stehen in einer dichten Reihe, wo vor Jahrhunderten die Gewürzhändler und Metzgerläden waren. Die halben Lämmer hängen noch heute beim Metzger, davor steht ein österreichischer Lieferwagen. An den größeren Plätzen stehen Denkmäler des Krieges und des Kampfes um die Unabhängigkeit. Die meisten Einwohner des Kosovo sind Albaner. Aber dennoch ist ein Anschluss des Kosovo an Albanien unwahrscheinlich. Der neu entstandene Staat braucht Denkmäler und Helden. Die Kosovaren sind auf der Suche nach Symbolen, nach ihrer Identität und schaffen sich ihre Helden selbst, indem sie überall im Land mit schwarzen Steintafeln an jene erinnern, die im Kampf gefallen sind. In Prizren befindet sich aber auch ein Haus, das an die Wichtigkeit des Kosovo für die albanische Nationalbewegung erinnert: Es ist das Haus der „Liga von Prizren“, die 1878 als Vereinigung albanischer Intelektueller gegründet wurde und das erste Zentrum des modernen albanischen Nationalismus wurde. Im Jahre 1999 von serbischen Freischärlern zerstört, wurde es wieder aufgebaut und dient heute als Museum. Auch dieses Haus ist eines der vielen neuen Wahrzeichen der Nation, die sich von Ex-Jugoslawien abgetrennt hat.

 

Eigentlich hatte ich vermutet, in Prizren ein bisschen mehr Militärpräsenz zu bemerken. Hier befindet sich ja nach wie vor das Hauptquartier der deutschen Truppen, die seit 1999 im Rahmen des KFOR-Einsatzes im Kosovo stationiert sind, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ich entdecke jedoch keinen einzigen Soldaten. Nur einmal fährt ein gepanzerter Truppentransporter durch die Stadt. Schnell und leise – man will nicht zu sehr auffallen, hat man als Beobachter das Gefühl. Die Stadt mit ihren Menschen hat zurückgefunden zum Alltag. Außer an Orten im Nordkosovo, wo es ab und zu Zusammenstöße zwischen Serben und Kosovo-Albanern gibt, bleibt die KFOR im Hintergrund.

Beim Mittagessen am Hauptplatz des Altstadtviertels kommen einige bettelnde Kinder und Zigarettenverkäufer vorbei, die der Kellner des kleinen Restaurants schnell vertreibt. Ich esse Qebapa (hier bekannt als Ćevapčići) für einen unerhört günstigen Preis. Dann mache ich mich zurück ins Motel, um die Weiterreise anzutreten in die Hauptstadt des neuen Staates: Prishtina.

 

Die Fahrt geht dieses Mal vorbei am österreichischen KFOR-Hauptquartier, sodass ich doch noch eine Spur von Brisanz erfahre. Aus der Stadt hinaus, durch kleinere Ortschaften kurvt der Bus. Mit den Sommerhits von letztem Jahr durchs Kosovo. Da kommt gute Laune auf. Draußen, am Eingang eines Wäldchens, steht ein Schild mit der Aufschrift „Achtung Minen!“. Immer wieder wird einem bewusst wo man ist. Eine Gedenkstelle folgt auf die andere.

Obwohl Prizren um einiges sehenswerter ist als die Hauptstadt des Kosovo loht sich ein Ausflug nach Prishtina dennoch. Eine belebte Fußgängerzone, viele angesagte Bars und Cafés. In der Stadt begegnen mir zwei deutsche Soldaten, die ihre Freizeit in der Fußgängerzone und den Bars verbringen, sich von ihren albanischen Freundinnen verabschieden und dann gemütlich den Weg zurück zu ihrer Basis gehen. Prishtina ist kein typisches Ziel für Touristen. Doch hier befindet sich die UNMIK, eine internationale Organisation, die 1999 mit der Bildung administrativer Strukturen und eines funktionierenden Staates beauftragt wurde. Allerdings gibt es hier nichts zu sehen. Eindrucksvoller, wenngleich erschütternd, ist der Zaun vor dem Gebäude der Stadtverwaltung. Hier hängen die Fotos derer, die noch vermisst werden, die in dem ganzen Konflikt irgendwann einfach verschwanden und vermutlich schon lange tot sind. In Klarsichtfolien, geschützt vor der Witterung, aber nach über 10 Jahren doch vergilbt und verblasst sind die Bilder der Männer, Frauen und Kinder, an denen tagtäglich hunderte Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit vorbeigehen.

Das Kosovo fasziniert durch die Balance von Fremdheit und Vertrautem. Wie selbstverständlich bezahlt man hier in Euro. Entlang der Landstraße, die aus Prishtina hinausführt, liegen die Hallen deutscher Unternehmen und mitteleuropäische Firmen, die sich hier einen neuen Markt gesucht haben. Tankstellen, die „bleifrei“ anbieten. Neben ihnen stehen Friedhöfe des Krieges, überflutet vom Tauwasser des März. Ich mache einen Ausflug nach Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, die mit dem Bus nur etwa zweieineinhalb Stunden von Prishtina entfernt liegt. Bei der Rückkehr kontrolliert ein Kosovare die Pässe und sagt „Schönnguttntag, sind Sie bei uns beschäftigt?“ Ich bin überrascht und sage, dass ich nur Tourist sei. Mein Vordermann kommt aus Mazedonien und dreht sich später zu mir um. Was ich hier täte, fragt er. Ich sei der erste Tourist, den er im Kosovo sehe. Es sei doch noch Krieg.

Zurück in Prishtina erzählt mir ein Taxifahrer, dass er acht Jahre in Deutschland gelebt habe. Sein 18jähriger Sohn könne noch gut Deutsch, die Tochter würde in der Schule aber nur noch Englisch lernen. Im Kosovo treffe ich auf erstaunlich viele Menschen, die meine Sprache sprechen. Und auch hier sind die Menschen zuvorkommend, hilfsbereit und freundlich. Sie sind stolz auf ihre deutschen Autos. Dieser Stolz greift auf mich über, wenn ich sehe, was diese Autos tagtäglich auf den mit Schlaglöchern übersäten Straßen leisten. Für die deutschen Autos gäbe es genügend Ersatzteile, erzählt mir der Taxifahrer. Für die japanischen nicht. Es ist verrückt. Man wird als Deutscher von Menschen willkommengeheißen, die selbst jahrelang in Deutschland lebt und gearbeitet haben und wahrscheinlich in den seltensten Fällen willkommen waren. Jetzt sind viele von ihnen wieder zurück in der alten Heimat und bauen ihr Land auf. Das Kosovo ist im Aufbruch, auch wenn es hier nicht sehr hektisch zugeht. Die Häuser sind größtenteils wieder aufgebaut, eine Infrastruktur besteht und funktioniert. Europa kann kommen.