Reisebericht aus Nablus

 

(Thorsten Muth)

 

Im Februar 2011 besuchte ich zusammen mit meiner Mutter und meiner Großtante das Heilige Land. Nach einer Woche Rundreise, die uns durch Jerusalem ans Tote Meer führte und von dort weiter in den Norden an den See Genezareth, brachte ich meine Verwandtschaft zum Flughafen. Ich wollte noch fünf weitere Tage bleiben und hatte mir einiges vorgenommen. Von Jerusalem aus wollte ich dieses Mal auch die Palästinensergebiete erkunden. Erste Station war Ramallah – eine vergleichsweise weltoffene Stadt, wie ich bald bemerkte. Ich besuchte das Grabmal von Jassir Arafat, die Altstadt von Ramallah und schlenderte durch die Marktstraßen. Mein zweites Ziel war Nablus – die Stadt der Olivenseife, wie ich im Reiseführer zu lesen bekam.

 

Für meinen Trip nach Nablus hatte ich mir relativ viele Programmpunkte vorgenommen. Aus den meisten ist jedoch nichts geworden. Ich war zuvor noch nie in dieser Stadt gewesen. Und immer wenn ich in eine neue Stadt komme, muss ich mich zuallererst einmal umschauen. Das habe ich dann auch gemacht. Wie schon am Vortag bin ich morgens am Damaskustor in Ostjerusalem aufgebrochen. Mit dem arabischen Sammelbus über den Checkpoint nach Ramallah. Dort fragte ich mich durch zum klapprigen Linienbus nach Nablus. Der Busfahrer lächelt erfreut, als ich versuche meine Arabischkenntnisse von der Universität anzuwenden. Der Bus wartet ganze zwanzig Minuten, bevor er losfährt. Währenddessen kommen im Radio die Nachrichten, die ich zu verstehen versuche – beim Tempo der Sprecherin ein hoffnungsloses Vorhaben. Dann fährt der Bus los und muss sich zuerst mit der quakenden Hupe einen Weg durch die Innenstadt von Ramallah bahnen. Ein Meer von gelben Taxis bildet das Bühnenbild, ein Hupkonzert die Geräuschkulisse.

Die Strecke nach Nablus führt durch die Berge Samarias. Überall kleine arabische Dörfer am Wegesrand, Olivenbäume so weit das Auge reicht. Auf dem Weg fährt man an einigen jüdischen Siedlungen und Armeestützpunkten vorbei. Teilweise geht es über die israelische Staatsstraße. Zufahrten von kleineren palästinensischen Straßen sind oft vor Jahren von der israelischen Armee zugeschüttet oder mit Betonblöcken blockiert worden. Ein äußerst unübersichtliches Chaos von Zufahrtsstraßen, Schotterpisten und geteerten Highways.

Die Vorstadt von Nablus besteht dem Anschein nach hauptsächlich aus KfZ-Werkstätten und Autolackierereien. Noch nie habe ich so viele VW-Busse und alte Mercedes gesehen. Klapprige Kleinwagen und frisch lackierte sechstürige Limousinen. Dazu eine Vielzahl von Autoreifenhändlern. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Nablus eröffnen die Menschen wohl bevorzugt Werkstätten am Rand der großen Zufahrtsstraße in die Stadt.

 

Zwischen zwei Berghängen liegt die Stadt. Nablus, das biblische Sichem (hebräisch Schechem), heute geprägt durch unfertige Hochhäuser und hellgraue Häuser, die den Berg hinaufkriechen. Große Moscheen mit kleinen Minaretten prägen das Bild. Und dieser Verkehr. Überall sieht man die typisch palästinensischen gelben Taxis. Dazu Generationen von deutschen Qualitätsautomobilen der letzten Jahrzehnte sowie eine Vielzahl anderer uralter, aber funktionstüchtiger Autos. Alles läuft wie geschmiert, jedes Auto erfüllt seinen Zweck. Und Geschmack hat man in Nablus: Eine Metzgerei hat zwei VW-Busse im weißen Partnerlook, ein Gemüsehändler bietet seine orangen Karotten neben einem gleichfarbigen, orangen VW-Bus an. Ein Bild zum schmunzeln. Vor allem die Hupen funktionieren hier noch. Die Hupe ist auch das letzte Accessoire, das in Nablus zu rosten drohen könnte. Die Luft macht Musik.


Nablus ist - laut Reiseführer - eine sehr konservative und palästinensische Stadt. Das habe ich schon am ersten Kreisverkehr gemerkt: Bilder von Märtyrern und gefallenen Kämpfern der Intifada. Im Westen gelten diese Männer als Terroristen. Sie sprengten sich in Jerusalemer Vorstadtbussen in die Luft oder verübten Attentate auf am Straßenrand auf eine Mitfahrgelegenheit wartende Soldaten. In Nablus bewundert und verehrt man die jungen Männer. Sie geben vor, für Palästina und den Islam gefallen zu sein. In einer armen Stadt wie Nablus ist die Religion für viele Menschen das einzige, was ihnen geblieben ist. Auch in den Straßen der Stadt fällt auf, dass die meisten Frauen Kopftücher tragen oder sogar bis auf die Augen verschleiert sind. In Ramallah waren oft auch unverhüllte Frauen und Mädchen zu sehen. Doch Nablus bietet ein Beispiel muslimischer Frömmigkeit. Das wird auch deutlich, als ich um die Mittagszeit an einer der großen, im Suq versteckten Moscheen vorbeikomme: Aus ihr strömen dutzende von Männern, die am Gebet teilgenommen haben. In Ramallah habe ich nur vereinzelte Beter in der großen Moschee am Busbahnhof gesehen. Ich staune über die Unterschiede, die es hier doch zwischen den Städten gibt.

In Nablus trifft man keine Touristen. Ich habe das Gefühl, der einzige Ausländer in der Stadt zu sein. Und dennoch trifft mich nicht jeder Blick. Die Menschen sind zurückhaltend und gehen ihrer Arbeit nach. Es stört sie auch nicht, dass ich das ein oder andere Foto schieße, während ich durch den Basar schlendere.

Der Basar von Nablus hat mich überrascht: Er ist noch größer und aromatischer als der der Jerusalemer Altstadt. Zumindest erschien es mir so. Die Aufteilung der Geschäfte folgt keinem System; Nahrungsmittelläden reihen sich an Kleidungsgeschäfte. Lebendige Hühner werden in riesigen Käfigen gehalten, halbe Lämmer hängen geschlachtet und zerteilt in den Metzgereien von der Decke. Es gibt deutlich weniger Schmuckhändler als in Ramallah.
Nablus ist – oder war – bekannt für seine Olivenseife. Es gab mehrere Seifenfabriken, das Gewerbe hatte in Nablus Tradition. Heute finden sich kaum noch Abnehmer. Deshalb komme ich im Basar auch nur an einem Stand vorbei, der mir zum Erwerb zweier großer, grüner Würfel verhilft. Die Seife riecht weniger nach Oliven als nach Schaf. Aber sie ist vermutlich ein reines Naturprodukt. Dafür bezahle ich umgerechnet einen Euro.


Auf der meiner Liste der zu besuchenden Sehenswürdigkeiten standen das Cultural Heritage Enrichment Center (CHEC), das auch irgendwie mit Seife zu tun hat, und der Tuqan-Palast. Beides habe ich nicht gefunden. Außerdem war meine Zeit knapp, denn für den Rückweg musste ich (aufgrund der Kontrollen am Checkpoint bei Jerusalem) mehr Zeit einberechnen. Ursprünglich hatte ich auch noch den Berg Garizim besuchen wollen, auf dem in der Antike das Heiligtum der Samaritaner - quasi das Gegenstück zum Jerusalemer Tempel - stand. Dort soll es neben einigen weniger interessanten Ruinen auch ein Samaritaner-Museum geben. Doch auch dafür reichte meine Zeit leider nicht. In der Stadt selbst habe ich einen Samaritaner gesehen, den Berg musste ich aus der Ferne fotografieren.

Die Samaritaner sind eine Glaubensgemeinschaft, die sich vor über 2.000 Jahren von den Israeliten abgespalten hatte. Sie lesen nur die fünf Bücher Mose und lehnen die Prophetenbücher der Bibel ab. Dementsprechend feiern sie auch nur die urbiblischen Feste und kennen einige der heutigen jüdischen Feste nicht.

Bei den Samaritanern haben sich noch viele Bräuche aus der Zeit des Tempelkultes erhalten. So gibt es bis heute einen Hohepriester und einen lebendigen Opferkult. Auf dem Garizim, einem der beiden großen Berge, die Nablus umgeben, findet im Morgengrauen des Passah-Festes ein großes Opfer statt. Der Termin dieses Tages liegt früher als der des jüdischen Pessach. Im Morgengrauen werden Lämmer auf dem Garizim geschlachtet. Für den Laien mutet diese Szene wie ein Blutbad an, ein Alptraum für jeden Vegetarier.


Für meinen Rückweg nach Jerusalem musste ich erst einmal den Busbahnhof für die Richtung Ramallah suchen. In Nablus gibt es mehrere Stellen, an denen Busse abfahren. An einem Platz sammeln sich die gelben Service-Taxis, an einem anderen die Linienbusse, an noch einem anderen stehen die Busse privater Transportgesellschaften. Mir war diese Situation zu unübersichtlich und ich nahm dieses Mal ein Taxi, das mich 10 Schekel kostete – die Busfahrt nach Ramallah kostet 11 Schekel. Der Taxifahrer konnte kein Englisch – wie fast niemand in Nablus, abgesehen von den Studenten – also konnte ich wieder einmal mein Arabisch ausprobieren. Er fragte mich, ob er mich nicht direkt nach Ramallah fahren solle. Ich lehnte dankend ab. Ich wollte ganz klassisch mit dem Bus fahren.

Die Busfahrt bot mir auch direkt etwas Typisches für diese Region: Ganz plötzlich fing etwas an zu gackern. Die umsitzenden Leute fingen an zu lachen. Der alte Herr neben mir hatte in seiner Plastiktüte einen Karton, in dem er ein lebendiges Huhn transportierte. Irgendwie war es ihm peinlich, und er versuchte das Tier zu beruhigen, was ihm jedoch nur mit Mühe gelang. Wer weiß, vielleicht ist das arme Huhn am Abend gleich in der Suppe gelandet...

 

Für den Pauschaltouristen hat Nablus wenig zu bieten. Wer jedoch einmal eine typische Stadt in Palästina sehen will – egal wie man „Palästina“ jetzt politisch korrekt definiert – der ist hier auf jeden Fall richtig. Bei einem Ausflug durch die Stadt bekommt man Einblicke in das Leben der Menschen, man wird mitgerissen von den Menschenströmen, man taucht ein in die Welt der Basare.